Sonntag, 30. Januar 2011

Menschseelen II

Irgendwann, ein paar hundert Leben später, trafen die miteinander Verstrickten in einem ihrer wachen Momente eine gemeinsame Entscheidung: "Ich möchte fort von dir!" "Und ich von Dir." Also schlossen sie die Augen voreinander, setzten ihren Geist und ihren Willen ein und nahmen dem Strang seine Macht. So vergingen die nächsten hundert Leben.
Irgendwann öffneten sie wieder die Augen, doch der eine konnte den anderen nicht mehr erkennen und umgekehrt. Da wussten sie, das es gelungen war. Aus dem Strang war ein dünnes nebelhaftes Gewebe geworden, das ins Nichts führte und an der Stelle, an der sich der Strang aus dem Körper herausgewunden hatte, war der Leib geschlossen. Die Haut spannte sich glatt und rein wie ein Laken, nur an mittiger Stelle gab es eine winzige Ausbuchtung.
Sie waren nun frei sich treiben zu lassen, wohin sie wollten. Ziellos hasteten sie durch nachtschwarze Sphären, die erhellte wurden von Supernoven und Planetenglanz, immer getrieben von Neugier, immer dem eigenen Kopf hinterher. Die Leben vertickten im Sekundensturm, während sich die Kälte immer strenger um Herz und Hirn legte. Bald war die Neugier erfroren. Etwas später vereiste der Wille. Der Körper folgte einen Herzschlag darauf.
Sie stürzten aus dem Nichts, dem All-Einen, auf festen Grund, der heiß war von Lava und schwefligem Dampf. Benommen lagen sie dort ein Leben lang und noch eines länger, solange bis sich die Kälte aus dem Körper verzogen hatte, der fest wurde unter diesem neuen Himmel, in dieser neuen Umgebung. Auf Erde gebacken aus Staub, die Herzen trüb wie die Nebel um sie herum, so richteten sie sich auf als es an der Zeit war und ihre Füße eroberten den Grund, auf dem sie von nun an wandeln sollten.
Alleine standen sie vor den Gipfeln der Welt. Einsam blickten sie auf weite Flächen, die sich hinter dem Horizont verloren. Obwohl sie vorher keine Grenzen wie Gipfelgrat oder Himmelslinie gekannt hatten, fühlten sie sich in dieser beschränkten Umgebung verlassen wie nie zuvor. Also schlossen sie die Augen, um sich zurückzudenken, doch es gelang nicht. Der Boden mit seiner Schwere verfolgte sie bis in ihre Gedanken und machte den Körper träge.
So vergingen tausend Leben. Und tausend Leben drauf.
Als sie merkten, dass ihnen die Rückkehr nicht vergönnt war, träumten sie von den ersten Leben. Sie erinnerten sich an den Strang. Sie erinnerten sich, dass das Blut des anderen sie stets gewärmt hatte. Auf Armeslänge war er gewesen, der andere, der, den man gerade jetzt so dringend brauchte. Auf Armeslänge.
Diese Erkenntnis reifte und schwoll an zu einer Sphäre, in der Pläne auflebten und vergingen, und die immer, immer um den eigenen Nabel kreiste. 
Sie beugte sich über den Abend des einen und den Morgen des nächsten Lebens, über Abend und Morgen, Abend und Morgen.

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