Samstag, 29. Januar 2011

Menschseelen I

Da waren zwei miteinander, ineinander verstrickt. Die hatte man nicht gefragt, ob es ihnen gefallen würde. Es war einfach so gegeben.
Auf diese Weise kreisten sie umeinander, ein Leben lang. Ein zweites noch und ein drittes. Und immer war es gut gegangen, bis sie auf einmal ihre Augen öffneten und sich ins Gesicht sahen. Da erschraken sie, einen anderen so dicht vor sich zu sehen. Das geschah in ihrem vierten Leben. "Was willst du von mir?" fragten sie. "Ich will nichts, aber was willst du?" Hin und her ging die Fragerei, hin und her. Eine Antwort aber kam nicht zustande. So verging ihr viertes Leben.
Das fünfte verschliefen sie, erschöpft wie sie waren.
Als sich der Morgen des sechsten Lebens am Himmel rötete, wagte einer von ihnen den anderen, den Schlafenden, in aller Stille anzusehen. Er glitt mit dem Blick über Stirn und Haupt, über Schulter und Schlüsselbein, hinab zur Brust und tiefer noch. Dort stockte er. Aus dem Körper des Schläfers führte rotes Gewebe, wand sich armdick umeinander. Die Adern, Kanäle, Röhren und Schläuche gaben ihre Einzelexistenz auf und gingen unter im Gewirr des Stranges. Der Wachende tastete dieses geordnete Chaos mit seinem Blick ab, ließ sich treiben, folgte den verschiedenen Komponenten, hangelte sich weiter, weiter, bis er schließlich am anderen Ende ankam. Verwundert starrte er auf seinen eigenen Bauch, der sich auftat und alles in sich aufnahm, was sich ihm entgegenstreckte. Bei genauerer Betrachtung schien es dem Wachenden, als das er nicht nur Empfänger des Stranges war, sondern ihm mit dem eigenen entgegenstrebte. So neigte sich der Abend des sechsten Lebens über die Erkenntnis, dass beide zu gleichen Teilen fest miteinander verbunden waren. Ein Entkommen schien nicht möglich.
Das siebte Leben spiegelte das sechste. Das achte Leben verging in einem Atemzug.

-t.b.c-

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